Dieser Text basiert auf meiner Dissertation „Playbour-Time: Experimentelle Erforschung der techno-aisthetischen Existenzweise“ und wird fortlaufend erweitert und aktualisiert. Eine englische Version findet sich auf der Webseite von METABODY: https://metabody.eu/interferences-as-quality/
Letztes Update: 18.06.2020
Aktuell überführen viele Institutionen wie Theater, Oper, Konzerthäuser als auch Clubs und zahlreiche freiberufliche Kunstschaffende ihre künstlerischen Darbietungen in die digitale Sphäre des Internets. Die Masse an Streaming-Angeboten ist unüberschaubar.
Diese mediale Gebrauchsweise dient, wie Uwe Mattheiss in seinem taz-artikel (https://taz.de/Was-der-Kultur-im-Netz-verloren-geht/!5677513/) schreibt, in einer ungünstigen Weise der (Selbst-)Ausbeutung und dem Wettbewerb einer Aufmerksamkeitsökonomie: „Der Kleinunternehmerinstinkt, den viele Künstler*innen in der Hetze von Projekt zu Projekt geschärft haben, fürchtet zu Recht jene Marktbereinigung, die libertäre Ideologen in den Stahlgewittern der Krise für die Gesamtwirtschaft erhoffen.“
Sicherlich ist die Handlungsweise vieler Künstler*innen aus der Not heraus geboren, weil viele Konzerte, Theater- und Tanzaufführungen plötzlich abgesagt werden mussten und auch die Clubs bis voraussichtlich Ende August keine öffentlichen Veranstaltungen mehr geben können. Ich möchte hier auch keine Debatte über die Notwendigkeit oder Unnötigkeit der Schließungen führen.
Verkürzte Gebrauchsweisen von Medientechnologie
Auf die von Mattheiss angeführten ökonomischen Konsequenzen, angetrieben durch den neoliberalen Impetus, möchte ich nicht weiter eingehen. Jedoch ergibt sich aus meiner medienphilosophischen Perspektive eine anschauliche technoexperimentelle Situation, die verdeutlicht, dass die Intention vieler Kunstschaffende das Analoge 1:1 ins Digitale übertragen zu wollen, eine verkürzte Gebrauchsweise von Medientechnologien darstellt.
Diese hat zur Folge, dass auf funktioneller wie struktureller Ebene beider Existenzweisen – Mensch und Medientechnik – eine gegenseitigen Unterwerfung bzw. Ausbeutung am Wirken ist. Die Folgen dieser sozio-technologische Situation, die durch die Covid-19 Pandemie nun verschärft auftritt, möchte ich mit den Gedanken des Soziologen Bruno Latour und dem Technikphilosophen Gilbert Simondon unterstreichen.
Verlust an Qualität?
Angefangen beim Streamen einer Videoaufzeichnung mit dem Smartphone kleiner Tanz- oder Musikübungssessions in der heimischen Küche, über die Dokumentation von Theaterproben oder Orchesterkonzerten bis hin zur Digitalisierung ganzer Kunstausstellungen: Wenn das potenzielle Publikum zu Hause nicht das entsprechende technische Equipment zur Video- und Audiowiedergabe hat, wird es kaum die Qualität der darstellenden bzw. musikalischen Leistung der Künstler*innen wahrnehmen können. Eine einfache Bluetooth-Box kann die mannigfaltig qualitativen Nuancen schlicht nicht wiedergeben.
Zudem – und weshalb wir überhaupt ein Theaterstück, eine Tanzvorführung oder einen Technoclub besuchten – es fehlt die leibliche Präsenz. Sie erst vervollkommnet sinnliche Erfahrung. Daher fragt Mattheiss: „Was sind ihre Werke ohne den ‚Schmutz‘ der Materialien, was ist darstellende Kunst ohne die körperliche Präsenz von Akteur*innen und Publikum?“ Doch auch das Mediale des Digitalen hat seine Materialität und damit seinen Schmutz, der als Störung wahrnehmbar ist.
Generell verbinden und trennen zugleich alle Arten von Medien, egal ob damit der Körper, die Leinwand oder Technologie verstanden wird. Doch gerade mit den digitalen Medien werden die räumlichen Aspekte der Nähe und Distanz suspendiert. In den digitalen Wahrnehmungsarchitekturen vereinheitlichen sich Raum und Zeit in ihrer Multiplizität zu einem singulären Hier und Jetzt, zu einer ortlosen Dauergegenwart. Was nah erscheint, ist zugleich weit weg, und immer verfügbar und bleibt daher oft genug ohne Wertschätzung.
Strukturelle Anpassung beider Existenzweisen
Zwei Tatsachen lassen sich aus der gegenwärtigen mediale Gebrauchsweise erkennen: Erstens, bedeutet etwas ins Digitale zu übertragen, immer einen Verlust an Mehrdeutigkeit und Multivalenz. Beides ist unabdingbar an leibliche Qualitäten gebunden, d. h. man könnte meinen, die Qualität nimmt mit dem digitalen Transport ab. Jedoch – und das ist Entscheidend in dieser Beschreibung – kommt etwas Neues hinzu: Störgeräuche, Zeitverzögerungen oder Bildfragmentierungen. Dies stellt eine neue Qualität in der menschlichen Wahrnehmungsweise dar, die jedoch oft genug Negativ bewertet wird, weil sie nicht der künstlerischen Intention entspricht und die gewünschte Darbietung schmälert.
Anders gesagt, wenn Künstler*innen in ihr Spiel kommen, spielt immer schon etwas anderes mit ihnen – in diesem Fall die Medientechnik. Künstler*innen, die das jeweilige Medium und dessen Materialität nicht reflektieren, wie es Medienkunstschaffende in ihrer Praxis tun, unterwerfen ihr Spiel den technischen Bedingungen.
Medientechnologie als Mitspieler
Die zweite Tatsache betrifft die Medientechnologie: Wird der Mitspieler, also die Technik nicht als eigenständige Existenzweise begriffen, sondern soll die mediale Situation die pure Unvermitteltheit suggerieren, dann wird Technik als ein Objekt zum reinen Transport von Bedeutung verstanden. Dies bezeichnet Bruno Latour als „Doppelklick“: In einem solchen Verständnis wird die Medientechnologie als Intermediär behandelt, welcher möglichst unsichtbar und reibungslos zu funktionieren hat. Dieses Verständnis untermauert die These der Transparenz, wonach Medien von sich selbst absehen und verschwinden sollen. (Latour 2005, 37–42) Das technische Objekt wird der künstlerischen Intention unterworfen.
Mit der gegenwärtigen ethischen Haltung, d. h. den medialen, oben beschriebenen Gebrauchsweisen, neigen die strukturell und funktional unterschiedliche Existenzweisen sich in einer Form zu stabilisieren, in der sie nicht-wahrnehmbar sind. (Simondon 2011, 221–247)
Die Existenzweise des Mediateurs
Gilbert Simondon beschrieb in seinem Buch Die Existenzweise technischer Objekte die Ko-Genese, das Mit-Werden von Mensch und Technik. Er argumentiert, dass beide Existenzweisen zwar ontologisch symmetrisch sind, weil beide ko-evolvieren, doch funktionelle wie eindeutig strukturelle Unterschiede haben.
Weiter noch, verändert sich das künstlerische Spiel mit der Aufzeichnung durch entsprechende Medientechnologien. Sie muss sich verändern, denn das Gemisch aus Mensch und Technik ist metastabil und wandelt sich im Laufe des Prozesses. Die Konsequenz einer als stabil angenommenen Künstlerpersönlichkeit, ist die Negation der funktionellen wie strukturellen Asymmetrie zwischen Mensch und Technologie, wenn beide aufeinandertreffen.
Unter solchen medienökologischen Umständen werden keine fühlenden Aneignungsprozessen durchlaufen, die zu neuen Differenzen und damit zu weiteren, immer nur provisorischen Metastabilitäten führen. Stattdessen formiert sich eine ergebnisorientierte und optimierungswütige Anpassungslogik, die in einem bloßen Automatismus mündet.
Kein Transport ohne Transformation
Ein Transport, d. h. eine mediale Übertragung geht immer einher mit einer Transformation der Botschaft. Es kann keine 1:1-Übertragung geben, sofern nicht eine bloße Anpassung von Mensch und Technik stattfinden soll. Das technische Spiel, also der relationale Prozess zwischen dem Lebendigen und dem Technischen lässt sich als eine oszillierende Bewegung zwischen aktivem Involvieren und passivem Geschehen-lassen beschreiben. In dem Sinne lassen sich Prozesse nicht als entweder aktiv oder passiv klassifizieren, sondern sie sind sowohl aktiv als auch passiv zugleich.
Daher wäre anstatt einer Anpassungslogik grundlegender ein Aneignungsprozess anzustreben, mit dem die jeweiligen Qualitäten und Merkmale der beiden Existenzweisen – Mensch und Technik – (an)erkannt und wertgeschätzt werden können. Wird sich dem Spiel mit der Medientechnik und deren Eigenarten, Unbestimmtheiten und Störungen gebührend angeeignet, schließt dies einen langen Prozess des Trial-and-Error mit ein.
In-Formative Kräfte der Medientechnologie
In Simondons irreduktionistischer Philosophie wird auch eine Kritik am Hylemorphismus (Aristoteles) laut, wonach das Sein in eine aktive Form- und ein passives Stoffprinzip getrennt sei. (Simondon 2012, 328ff., 331) Dem passiven Material muss erst durch das aktive Tun eine Form gegeben werden.
Auf die hier vorliegende mediale Situation übertragen, wird dem Material ‚Medientechnologie‘ durch die künstlerische Darbietung eine Form gegeben. Diese Vereinfachung ist allerdings schwierig, da mediale wie künstlerische Situationen wesentlich komplexer sind. Schließlich ist auch der Körper des Tanzenden, die Stimme des Singenden, das Instrument des Musizierenden Material.
Doch worum es geht, ist, dass ein Material selbst diese formativen Kräfte besitzt, d. h. aktiv am Schaffensprozess beteiligt ist. Die jeweilige Medientechnologie formt das künstlerische Werk mit! Und dies müsste jedem Kunstschaffenden, egal welches Material er nutzt, klar sein. Daher ist es mir unbegreiflich, warum soviel kulturelle Institutionen und Kunstschaffende ausgerechnet von der Medientechnologie einen Transport der Botschaft ohne Transformation derselben erwarten.
Wie kommen wir aus dem Dilemma der leiblichen Isolation einerseits und der reinen Benutzung von Medientechnologien andererseits heraus?
Einen wichtigen Vorschlag macht der Kulturmanager Thomas Dumke in einem Facebook-Kommentar zum taz-Artikel von Mattheiss: Es müssen neue Formate her, die das Potenzial von Medientechnologien wertschätzen. Eine neue Kultur des Digitalen muss eingefordert werden bzw. fördern Medientechnologien in ihrer Eigenart diese Transformation.
Schon Ende der 1990er Jahren experimentierte eine Gruppe Künstler*innen der Blaue Fabrik Dresden und dem Palindrome (Robert Wechsler) mit den Potenzialen der Internet-Netzwerktechnik. Anders als heute das visuelle Register mit den Medientechnologien priorisiert wird, stand damals das auditive Vermögen im Vordergrund: Netzwerktechnik wurde gespielt. Ein wesentliches Merkmal damaliger Technik waren Delays, Verzögerungen in der Übertragung. Diese wurden jedoch nicht negativ interpretiert, sondern im künstlerischen Schaffensprozess konzeptionell mitgedacht und produktiv eingebracht.
Das experimentelles Spielen mit den Möglichkeiten und Beschränkungen der leiblichen wie medientechnologischen Bedingungen ist zunächst immer ein Trial-And-Error, dass viel Übung und Erfahrung braucht, damit Wahrnehmungsgewohnheiten strukturell gebrochen werden und neue Wahrnehmungsweisen durch künstlerisch-technische Vermögen entstehen können.
Unsere techno-aisthetische-Existenzweise steht noch ganz am Anfang. Es muss sich erst eine neue Ethik der medialen Gebrauchsweisen mit den digitalen Medientechnologien etablieren, die sich jenseits der verkrusteten Institutionen des Analogen und deren Wahrnehmungsgewohnheiten situiert.
Störungen,Irritationen oder Krümmungen unserer Wahrnehmungs-modalitäten verändern zwar nicht zwangsweise und instatan diese Strukturen, doch sie lassen diese sichtbar werden. Störungen lassen uns jene Wahrnehmungsgewohnheiten auf empfindliche Weise gewahr werden, die wir so verinnerlicht haben, die uns so vertraut sind, dass sie für uns selbstverständlich sind. Insofern ist auch der Covid-19 Virus als eine Störung einzuordnen, von der nicht wenige behaupten, dass sich die Kultur, wie wir sie kennen, verändern wird. Doch Veränderung ist nicht messbar und vollzieht sich nicht als ein Bruch mit dem Vorangegangen. Sie ist ein schleichender Schnitt. Für tatsächliche Transformation braucht es daher neue Schnittstellen (Interfaces).
Genese unserer Wahrnehmungsmodalitäten
Dieser zukunftsgewandte Appell erfordert zugleich einen Blick zurück auf philosophische, medizinische und physiologische Erklärungsmodelle. Ich möchte daher im Folgenden und in prägnanter Weise den Versuch unternehmen, die Strukturierung unserer Wahrnehmungsweisen am Beispiel der Camera Obscura und in Opposition zu dieser dem Stereoskop zu skizzieren. Dieses kleine Tableau medienepistemologischer Prozesse entfaltet die Geschichte menschlicher Wahrnehmungskonventionen als eine der zunehmenden Trennung von leiblichem Empfinden und geistigem Erkennen.
Ab dem 17. Jahrhundert und mit der Etablierung von Grundlagen zur Methodik der neuzeitlichen Naturwissenschaft galt nur das als wirklich, was beobachtbar und messbar ist. Dabei stellen Medientechniken genau die Art von Modellen und Metaphern bereit, die auch zu neuen Erkenntnissen über den menschlichen Sinnesapparat führen. (Kittler 2002, 28) So zeitigt die als sicher und geschützt angenommene Positionierung des Beobachters [Observer] in dem dunklen Raum einer Camera obscura die zentralperspektivische Sehtradition.
Die Camera obscura als Erkenntniswerkzeug
Mit der Camera obscura konnte sich die cartesianische Trennung von ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ etablieren. Durch seine technische Bauweise und seine dadurch hervorgerufenen Unsichtbarkeit ermöglichte erst diese Medientechnik im aufklärerischen Sinne überhaupt die Entstehung eines Subjektes. Sie bildet jene Voraussetzung für ein Erkennen einer stabilen Außenwelt und seiner Objekte. Es ist genau ihre Funktionsweise, die als Instrument der Weltvermessung das Ideal der ‚reinen‘ Beobachtung begünstigte, weil alle negativen Störaspekte sinnlicher Wahrnehmung auf ein Minimum reduziert waren, um der Maxime objektiver (Selbst-)Erkenntnis Folge zu leisten.
Auf die abendländische Wahrnehmungslehre hatte René Descartes (1569–1650) mechanistisches Körpermodell samt seiner auf organische Funktionen zurückgeführten Wahrnehmung entscheidende und nachhaltige Auswirkungen. Durch sein Denken konnte eine klare Distinktionslinie zwischen Körper als ‚res extensa‘ und Geist als ‚res cogitans‘ gezogen werden (Descartes 1664, 78–95). Die menschlichen Sinne wurden dementsprechend als technisch-mechanische Vorrichtung eines übergeordneten Verstandes in Analogie zum Gefüge der Camera obscura gedacht.
Starre Subjekt-Objekt-Trennung
Auch David Hume (1711–1776) behielt die Metapher der Camera obscura als inneres Wahrnehmungstheater bei und vermutete, dass der Widerspruch im menschlichen Empfinden – also dass einerseits alle Sinnesreize als unterbrochen erscheinen und anderseits dann in gleicher Art wiederaufgenommen werden – sich durch eine reale unabhängige Existenz des Objektes im Außen auflösen würde (Hume 1986).
Der Anspruch auf eine ‚reine‘ Objektivität, der dem Auftrag der Wissenschaft zugrunde liegt, formiert sich im Kanon ständiger Reduktion. In der Logik einer cartesianischen Trennung intensiviert sich demnach die Erforschung des Sehsinns, wobei Seh- und Tastsinn nicht weiter als zusammenhängend betrachtet wurden. Die Suche des ‚unbestimmten Subjekts‘ durch eine ‚reine‘ Beobachtung im Namen der Transparenz geht weiter.
Das, was in der Antike noch als bloße Illusion behandelt wird, bekommt allmählich den Status optischer Wahrheit: subjektiv wahrgenommene Phänomene des Visuellen wurde der Status der ‚Objektivität‘ zuteil (Crary 1996, 103 f.). Die keplersche Entdeckung des Netzhautbildes übernahm dabei die Rolle eines neutralen Bildschirms.
Das körperlose Sehen
Die vorherige Referenzialität der Außenwelt und ihrer Objekte als Bild verlagert sich zunehmend in die innere Nervenwelt als ein Bild. Kein Zitat als das von Arthur Schoppenhauer (1788–1860) belegt dies trefflicher; in seinem zweiten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung bringt er dieses Verständnis klar auf den Punkt:
„Vermöge der bewiesenen Intellektualität der Anschauung ist auch der Anblick schöner Gegenstände, z. B. einer schönen Aussicht, ein Gehirnphänomen. Die Reinheit und Vollkommenheit desselben hängt daher nicht bloß vom Objekt ab, sondern auch von der Beschaffenheit des Gehirns, nämlich von der Form und der Größe desselben, von der Feinheit seiner Textur und von der Energie des Pulses der Gehirnadern.
Schoppenhauer 1860, 41f.
Sowohl die Ansichten von Schopenhauer als auch die von Goethe und seiner Farbenlehre (Goethe 1949, 844–855) und die eines unbestimmten Subjekts von Kant (Kant 1960, 22 ff., 214 f., 203 ff.) bereiteten zusammen mit der physiologischen Optik den Weg für weitere tiefgreifende Veränderungen auf diesem Feld und bestimmten massgeblich auch, was als ‚wissenschaftlich‘ gilt. Egal ob bei Kant das ‚transzendentale Subjekt‘ reine Illusion sei oder bei Schopenhauer das ‚Ich‘ nun zu einem empirischen Objekt wird, der phänomenale Leib wird in beiden Fällen reduziert.
Das Potenzial zum subjektiven Falsch-Wahrnehmen
Die menschlichen Sinne wurden im 19. Jahrhundert technisch aufgerüstet und ihre Leistungsfähigkeit erweitert und verfeinert. Dabei fiel der Physiologie eine zentrale Rolle innerhalb der Wissenschaft zu, denn sie untermauerte durch ihre Experimente das mechanistische Menschenbild, welches durch metaphorische Verschränkungen sich innerhalb des Dispositives genau nach dem Logos formierte, dem es Folge leistete. Deren Ergebnisse und die sich daraus ableitenden Erkenntnisse führten auch zu einer Neubewertung der menschlichen Sinneswahrnehmung.
Der Schwerpunkt physiologischer Untersuchungen lag auf der Entdeckung der Funktionsweise von Auge, Sehnerv und Gehirn. Unter der Prämisse einer statischen Objektwelt und eines sich-selbst-identischen Individuums, führten die immer exakter messenden Experimentalanordnungen zu der Erkenntnis eines zeitlichen Intervalls zwischen Wahrnehmen und Wahrgeben. (Unter Wahrgebung verstehe ich eine reflexive Form der Wahrnehmung, bei der Ambivalenzen ‚glatt gestrichen‘ werden. Damit ist eine aktive Wirklichkeitsserzeugung gemeint, die den Prozess der Materialisierung und Bedeutungsgebung einschließt.)
Johannes Müller (1801–1858) hatte 1826 in seinem Werk Über die phantastischen Gesichtserscheinungen ausführlich den Zusammenhang von Nervenbahnen und Sinneswahrnehmung studiert: Die ausgelöste Sinneswahrnehmung erwies sich als unabhängig von der Art und Weise in der die Nervenbahnen jeweils gereizt wurden. Müller ebnete damit den Weg für ein Menschenbild, welches dem Individuum seine Wahrnehmung von Welt als geistige Komposition darstellte.
Die Zeitlichkeit des Wahrnehmens
Die Zeitlichkeit des Wahrnehmungsprozesses wurde im Sinne einer ‚reinen Wahrnehmung‘ insbesondere durch Müller als das menschliche Potenzial zum ‚Falsch-Wahrnehmen‘ interpretiert. Daraus schließende biologische Erklärungsmodelle deuteten menschliche Wahrnehmung als subjektive Konstruktion und mündeten später in die Richtung des Behaviorismus.
Die Sinnesverschaltung (Synästhesie) als ein ausgeblendetes Grundrecht menschlichen Daseins geriet indes ab den 19. Jahrhundert erst wieder ins Blickfeld wissenschaftlicher Fragestellungen. Sie wurde allerdings einerseits als abnorme Verwechslung physiologisch getrennter Vorgänge und andererseits als künstlerische Technik verstanden. Erst im Ausgang des 19. Jahrhunderts wurde zunehmend Kritik am ‚Scheinproblem des Leib-Seele-Dualismus‘ laut, die zur Formulierung der Gestalttheorie führte sowie den Weg für die Phänomenologie öffnete.
Kritik am Empirismus und Reduktionismus
Auch Merleau-Ponty richtete sich mit seinem Werk Phänomenologie der Wahrnehmung gegen die zwei zu damaligen Zeiten präsenten Strömungen der Philosophie: den Intellektualismus und den Empirismus (Merleau-Ponty 2011, 85, 70, 47 ff.). Auf der einen Seite bestehe die vorausgesetzte objektive Welt aufgrund ihrer gegebenen Eigenschaften als ihre eigene Ergänzung im Bewusstsein des Subjektes. Auf der anderen Seite und dem Empiriker zufolge liege der Ursprung allen Wissens in der Erfahrung, das heißt in der Beobachtung bzw. in der Sinneswahrnehmung des passiven Erkenntnissubjekts gegenüber den äußerlichen Objekten. In beiden erkenntnistheoretischen Lehren seien die Oppositionen zwischen Körper und Geist, Leib und Seele, Außen und Innen, objektiver Welt und Subjekt präsent und erweisen sich dadurch als mangelhaft.
Aus dieser Ablehnung heraus entwickelte Merleau-Ponty einen produktiven Ansatz zur Beziehung von Sein und Welt, weil „äußere Natur und Leben ohne Bezug zur wahrgenommenen Natur“ undenkbar sind (Merleau-Ponty 2011, 52). Es sei der menschliche Leib und nicht das Bewusstsein, welcher Natur wahrnimmt und zugleich in ihr wohnt.
Die Wechselwirkung von Leib und Welt
Die Relation von Leib und Welt schildert Merleau-Ponty überaus poetisch: „Die Welt, die ich habe, ist ein unvollendetes Individuum, und ich habe sie durch meinen Leib hindurch, der das Vermögen dieser Welt ist.“ Es sei ein ständiges, existenzielles Oszillieren zwischen Leib und Welt. Beide stehen in einem gegenseitigen Implikationsverhältnis, weil „nämlich mein Leib Bewegung auf die Welt zu ist und die Welt der Stützpunkt meines Leibes“ (Merleau-Ponty 2011, 401).
Genau jene Gerichtetheit des Leibes zur Welt, lässt ihn zum Sinnstifter der ihn umgebenden Welt werden. Dabei ist es genau das Prinzip der Unbestimmtheit, die der menschlichen Existenz erlaubt, eine bloß faktische Situation zu übernehmen, sie zu bestimmen, zu bewerten und ihr dadurch erst Sinn zu verleihen.
Die Propriozeption des Körpers
Ohne Räumlichkeit kann der Leib nicht erfahren werden (Merleau-Ponty 2011, 197). Noch bevor sich der Mensch kognitiv die Dimensionen der Räumlichkeit zu eigen macht und indem sein Leib als Vollzugsort operiert, hat er bereits etwas Prä-Räumliches. „Die Bewegungserfahrung unseres Leibes ist somit kein Sonderfall einer Erkenntnis; sie eröffnet uns erst eine Weise des Zugangs zur Welt und zu Gegenständen, eine ‚Praktognosie‘, die es als eigenständige, ja vielleicht als ursprünglich anzuerkennen gilt.“ (Merleau-Ponty 2011, 170)
Der Leib hat seine Welt und begreift diese zuerst durch Eigenbewegung [Propriozeption]. Ohne erst den Durchgang durch „Vorstellungen“ nehmen zu müssen oder sich einer „objektivierenden“ oder „Symbol-Funktion“ unterordnen zu müssen, erfährt der Leib sich und Welt durch Bewegung. (Merleau-Ponty 2011, 170). Mit der Bewegungsempfindung schafft der Leib einen Sinn aller Signifikationen im Außenraum unmittelbar, ohne ein Vermittelndes zwischen Ich und Körper.
Der Leib ist Bedingung und Ursache von Wirklichkeit zugleich. Empfindungen führen zur Bewegung und umgekehrt führen Bewegungen zu Empfindungen, was besonders mit der Doppelempfindsamkeit des Körpers markant wird. Die Reflexivität (des Berührens) ist Merleau-Ponty zufolge charakteristisch für alle Empfindungen. Dadurch verschränkt sich Selbst- und Fremdbezug.
Die Metastabilität menschlicher Existenzweise
Der Leib und seine (mediale) Umwelt stehen in einem ko-konstitutiven Verhältnis zueinander. Aufgrund ihres gegenseitigen Implikationsverhältnisses erscheinen Subjekt und Objekt niemals als (phänomenologisch) getrennt, sondern existieren zunächst als Mischung oder Milieu. Mit dem Wahrnahmungsprozess und zunehmender Sensibilisierung differenziert sich das Selbst- und Weltverständnis.
Dabei greifen wir auf bereits gemachte, mediale Vorerfahrungen (Strukturierungen) zurück, welche durch Begegnungen mit dem Fremden und Anderen gestört und auch modifiziert werden. Dies beschreibt die Metastabilität menschlicher Existenzweise. Ohne diese strukturelle Eigenart wäre der Mensch nicht zur (Weiter-)Entwicklung fähig.
Destabilisierung durch das Stereoskop
Die Medialität unseres Seins, führt unweigerlich zur Destabilisierung des rationalen, sich selbst gewissen Ichs. Diese Destabilisierung wurde besonders deutlich bei der Anwendung eines Stereoskops. Der Sehapparat ist eigentlich ein anti-optischer Apparat, den mit der Tiefenillusion können stereoskopisch Betrachtende ein Gespür für ihre eigene Dislokation entwickeln. Das zentralperspektivisch organisierte Sehfeld stösst dabei an seine Grenzen, basiert es doch auf Binokularität, welche sich im technischen Apparat direkt zeitigt.
Die physiologischen Untersuchungen, wie das Auge die nicht weit entfernten Gegenstände wahrnimmt, bestimmten grundlegend den Aufbau des Stereoskops. Weil das Stereoskop eine Sehtechnik erfordert, welche Perspektive verunmöglicht, wird ein aperspektivisches Merkmal deutlich: Die stereoskopische Sehtechnik erzeugt Nähe. Besonders die Nähe bringt den Effekt einer verstörende Greifbarkeit mit sich, welche die Beobachtenden destabilisiert. Das Oszillieren von Mensch und Welt wird durch den technischen Apparat erfahrbar.
Ein ständiger Prozess des Ausbalancierens
Mit der schamlosen Infragestellung des Vorgangs einer aktiven Synthese des Gehirns und der Suche nach dem Raum-Zeit-Kontinuum des Bewusstseins, macht das Stereoskop dem Menschen seinen ständigen Prozess des Ausbalancierens begreiflich. Indem die Medialität des menschlichen Sinnesapparates durch das Stereoskop sichtbar gemacht wird, ist der Akt des Sehens und der damit verbundene Wunsch des Begreifen-Wollens nicht länger durch den technischen Apparat verdeckt.
Eine Reihe medientechnischer Apparate dienten zunächst als Experimentalanordungen für wissenschaftliche Untersuchungen und anschließend dem Vergnügen in der neu entstandenen Freizeitsphäre. Der durch sogenannte Bewegungsapparate im Betrachtenden evozierte Schwindel verdeutlicht unter einer medienanthropologischen Perspektive die Generierung von neuen sensomotorischen Fähigkeiten des Menschen, die durch Medientechniken auf unterschiedliche Weise gefordert wie gefördert werden (Ladewig 2010).
Der technische Logos und seine Konsequenzen
Für die Wirkweise, d. h. ästhetische Dimension von Medientechnologien sind Set und Setting hinreichend entscheidend. Wer sich an schnelle Bildwechsel bereits gewöhnt hat, erleidet weitaus weniger Schwindel als derjenige Mensch, der noch keine solchen sensomotorischen Fähigkeiten entwickelt hat. Des Weiteren ist auch der Kontext in welchem die Medienerfahrung stattfindet entscheidend. Das Erleben einer gestreamten DJ-Session zu Hause bringt daher nicht die gleichen Effekte hervor als das Live-Erleben im Club.
Doch wie ich schlaglichtartig oben dargestellt habe, trägt bereits die Bau- und Funktionsweise der jeweiligen Medientechnologie eine ästhetische Dimension, die fundamentalen Einfluss auf die Modifikation menschlicher Wahrnehmungsweisen hat. Daher spricht der französische Philosoph Bernard Stiegler von einer „pharmakologischen Wirkung“ der Medien. Er meint damit die Dosis der jeweiligen Affektbeeinflussung durch die verschiedenen Medientechnologien, welche Heilmittel und Gift zugleich sein kann. (Stiegler 2009, S. 50.)
Die Rolle der Ingenieur*innen
Es ist jener technische Logos der Ingenieur*innen, der die Bedeutung der Wirkweise in die Bau- und Funktionsweise als eine Form des embodied knowledgment implementiert. Je nach dem, wie die Wahrnehmungs- und Denkweisen der Entwickelnden formiert ist, welches Menschenbild jene haben, so verläuft in spezifischer Weise der medientechnologische Entwicklungsprozess.
Die Wünsche, Hoffnungen, Ziele und Motivationen, kurz deren ethos, bestimmt die künftige Performance aus technischen und menschlichen Individuen und damit deren medientechnologische Wirkweisen mit. Diese ethischen Einstellungen realisieren sich bspw. in Protokollen und spiegeln sich im Design und den sich daraus ergebenen Interaktionsmöglichkeiten für User wieder.
Prozess-Orientierung
Der Verweis auf die tragende Rolle von Ingenieur*innen ist mir daher so besonders wichtig, weil mit Blick in die techno-künstlerische Sphäre deutlich wird, dass ohne die Bedeutung der Genese eines Werkes eine Lücke im Verständnis des Werkes als Prozess entsteht. Der Fokus auf eine reine Repräsentationsanalyse von medienkünstlerischen Werken koppelt die künstlerischen Ergebnisse von der Bedeutung deren Entstehung ab. (Bolt 2004)
Jeder von uns, der schon einmal selbst etwas (künstlerisches) entwickelt hat, wird die Widerständigkeiten des Materials, sei es Knete, Papier, Farbe oder Technologie, erfahren haben. Ursprüngliche Intentionen müsse dann modifiziert werden. Daher bezeichnet Andrew Pickering diesen Prozess als „dance of agency“, weil sich erst durch das Zusammenspiel von menschlichen und nicht-menschlichen Handlungsmächten [agency] neue Eigenschaften oder Strukturen – oftmals spontan – herausbilden. (Pickering 1995, u. a. S. 22 ff., S. 51 f.)
Das Spiel bestehende Regeln zu übersteigen
Wir können diesen Entwicklungsprozess auch als Spiel bezeichnen, weil es einerseits die freiwillige Verpflichtung – zur Konstruktion, zum Erproben und Testen – mit sich bringt und andererseits immer die Wahl von verschiedenen Lösungswegen beinhaltet. Solange nicht automatisch einer Gebrauchsanweisung, d. h. Regelhaftigkeit gefolgt wird, sondern Strukturen auch überstiegen werden, wie bspw. Programmcode oder Schaltkreise modifiziert werden, erleben wir einen spielerischen Prozess.
Das Risiko des Scheiterns ist dabei ebenso präsent wie das Erleben höchster Glücksgefühle, wenn eine Transmission im Netz verteilter Handlungsträger funktioniert, d. h. wenn etwas Neues, gar Unvorhersehbares dabei entsteht. Im optimalsten Falle entsteht auf diese Weise eine soziale Technologie der Zugehörigkeit, weil sie der belgischen Philosophin Isabell Stengers zu Folge, auf einer Praxis von diplomatischer Natur basiert. (Stengers 2005, S. 193.)
Soziale Technologien, die ein Mit-Einander produzieren, fördern die Selbstwirksamkeit des Einzelnen, fordern jedoch zugleich stets eine Reformulierung der eigenen einschränkenden Verpflichtungen, um einen zukunftsweisenden Vorschlag herzustellen, der für eine partikulare, lokale, d. h. Kontext-abhängige Situation zum Kompromiss führt.
Performativitätszwang und die instrumentelle Logik
Allerdings kann eine selbstauferlegte Verpflichtung auch zu einer Art Performativitäszwang führen, wenn der Gebrauchsanweisung bedingungslos gefolgt wird oder weil ein Spiel gespielt wird, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen. Dieses Herangehen betrachtet das Spiel als Objekt und nicht als Entität, welches es zu ‚bezwingen‘ gilt.
Die Aneignung findet somit auf einer instrumentellen Ebene statt. Tritt das Ergebnis einer Situation in den Vordergrund der Bewertung, so kann dies als Kultivierung jenes Leistungsdrucks betrachtet werden, der bspw. in unserer neoliberalen Leistungsgesellschaft an Prägnanz gewinnt.
Die Frage ist, wohin das Gewicht der Beurteilung gelegt wird: auf das Ergebnis oder den Prozess. Liegt der Fokus auf Letzterem, sind die spielenden Entwickler*innen auf sich selbst zurückgeworfen und müssen sich dem Entscheidungs- und Rezeptionsdruck aussetzen. In dieser Weise unterscheidet auch Stengers eine soziale technology of belonging von reinen Instrumenten, welche zu jeder Zeit und kontextunabhängig in immer der selben Weise funktionieren.
Messbarkeit und Berechenbarkeit
Die Tendenz der rein technischen Denkweise zeitigte sich insbesondere ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, weil zu dieser Zeit verschiedene (medien)technische Methoden der Selbstvermessung etabliert wurden, die der genaueren und umfangreicheren Erfassung menschlichen Lebens beitrugen. Diese medientechnische Praxis und Welt- bzw. Selbstbild konstituieren sich dabei wechselseitig. Die empirischen Wissenschaften, ihre analytisch-technische Denkweise und technischen Messinstrumente folgen dabei dem Ideal der Optimierung.
Diese Dynamik lässt sich heute auf den Begriff des Quantified Self bringen. In dessen Black Box verbinden sich mathematisches Kalkül mit zweckrationalen Denken auf eine unheimliche Weise. Obgleich die Quantifizierung des eigenen Lebens sich als eine Expedition in noch unerschlossene Gebiete des Ichs erweisen soll, so verharrt sie doch im Bereich des Meßbaren, Analytischen und Zerlegbaren ganz im Sinne des technischen Logos. Gegenwärtig wird die Situation durch den neoliberalen Impetus verschärft, der die sich stets überbietende Selbstverwirklichung und zwanghafte Selbst-Optimierung des Homo Fabers bedingungslos einfordert.
Das Hypernormale
Das Selbst steht dabei im Verhältnis zwischen innerer Motivation und äußerem Druck. Sich selbst übertreffen, bedeutet für den Homo Faber – um noch kurz bei dieser Denkfigur zu bleiben – über seine eigenen gemessenen Standards hinauszuwachsen. Das „Hypernormale“ ist somit der Inbegriff einer quantitativen Steigerungslogik, so der Medienphilosoph Michael Cuntz in Rekurs auf den französischen Soziologen Alain Ehrenberg. (Cuntz 2007, S. 147).
Grundlage der hypernormalisierenden Beschleunigung ist die Implementierung von Kontrollmechanismen in Form von Feedbackschleifen. In diesen können sich ein Subjekt oder eine Gemeinschaft in Form von Zuschauern selbst beobachten, um sich ihrer selbst zu vergewissern, zu versichern. Das kybernetische Prinzip der Aktion-Reaktion samt seiner Rückkopplungsmechanismen unterstützt jenen Leistungskult, der sowohl ständige Aktivität als auch die entsprechende Selbstregulation vom Subjekt fordert.
Dabei beschleunigt die Vermehrung des Wissens, welches sich durch ständige statistische, massenhafte Verdatung generiert, den Prozess der Optimierung, sodass „Hypernormalität […] der Zustand von Subjekten unter der Bedingung extrem beschleunigter Normalisierung [ist]“. (Cuntz 2007, S. 149).
Simulation von Transformation
Jedoch verhindern die endlosen rekursiven Feedbackschleifen jene zur Individuation notwendige Metastabilität. Das Übergewicht an autoregulativen Prozessen und die daraus folgende instrumentelle Logik verunmöglicht tatsächliche Transformation, weil nur das von der medialen Situation in einer eindeutigen Weise gespiegelt wird, was sich bereits realisiert hat. Die normalistischen Rückkopplungseffekte der Kontrollgesellschaft sind die Perversion des neoliberalen Denkens, „weil sie keine jähen Sprünge mehr erlauben, sondern nur das ewige Drehen im Kreis als Simulation von Veränderungen“ (Cuntz 2008, S. 43).
Um das kapitalistische System und dessen ästhetische Dynamik zu kritisieren, sei hier an die benjaminsche Bezeichnung der „Phantasmagorie“ erinnert, womit er die unsichtbare Struktur des ewig Gleichen meint, die dann als Neu etikettiert wird (Benjamin 1985, S. 1257).
Doch das zur Transformation notwendige Potenzial prozessiert sich durch wahrnehmbare Störungen, Widerstände und Leerstellen. Das dadurch entstehende Gemisches an Unbestimmtheit und Ambivalenz aktualisiert das Alte zum Neuen. Diese Aktualität ist metastabil, d. h. sie stellt lediglich ein provisorisches Gleichgewicht im Hier und Jetzt dar. Anstelle also den technische Vermittlungsprozess z.Bsp. durch Delays sichtbar werden zu lassen, soll Technologie möglichst reibungslos, störungsfrei, kurz unsichtbar werden.
Im Zuge des Versprechen des Automatismus und unter Symptomen kybernetischer Regierungsformen sowie weiterer neoliberaler Versicherungen wird nicht nur Technik unsichtbar, sondern auch der Mensch vornehmlich in den Kategorien der Arbeitskraft, Leistungsfähigkeit und Effizienz klassifiziert. Seine ideologische Dimension gewinnt dieses Versprechen in seiner Fatalität gerade dadurch, weil der Automatismus lediglich dazu führt, dass ebenso wie Technologie auch der Mensch als Mediateur zwischen den Maschinen unsichtbar wird ( Vgl. Block & Riesewieck 2018).
Kontrollzwang und Risikominimierung
Der durch ständige, rekursive Feedbackschleifen konditionierte Kontrollreflex bedingt das Schwinden der zum Spiel notwendige Risikobereitschaft ganzer Gesellschaften. Dies wird wie in einem Brennglas vergrößert besonders deutlich in der derzeitigen COVID 19-Pandemie. Es ist eine Krise, in der Kontrolle, die mit dem technischen Fortschritt ermöglicht wird, funktioniert: Quarantäne, Ausgangssperren, Isolierung, Händewaschen, Personen-Tracking, Informationskontrolle, kurz: Kontrolle unseres Körpers.
Der kriegerisch anmutende Kampf gegen den Feind – das Virus – bestätigt den Fortschrittsgedanken durch Technologie, die Objektivität der Wissenschaft und die Gültigkeit unserer Systeme. Fortschritt wird dabei als eine Sache der zunehmenden Kontrolle über die Welt verstanden, wie sie durch wissenschaftliche Experimente und Erklärungsmodelle gelingen soll: Die Beherrschung der Naturkräfte und die Gliederung der Gesellschaft nach Gesetz und Vernunft. „Die Realität wurde in objektive Kategorien und Mengen sortiert und die Materie durch Technologie beherrscht.“ (Eisenstein 2020)
Das Selbst als Milieu gedacht
Werte wie Spiel, Freiheit, Abenteuer, Freude und die Erweiterung von Grenzen werden zugunsten der Sicherheit und des Überlebens hintenangestellt. Umgeben von ökonomischen, genetischen und sozialen Anderen – Konkurrenten – muss sich das Selbst schützen und andere unterwerfen, wenn es Erfolg haben will.
Dabei wächst gerade mit der Risikobereitschaft das Verantwortungsgefühl und der gesunde Menschenverstand; mit dem Scheitern die Demut vor dem Leben und Tod. Erst durch unsere sozialen, ökologischen und technischen Anhänglichkeiten entsteht ein Selbst als ein auf das Andere bezogenes, vom Anderen abhängige, ja sogar durch das Andere erst existierende Selbst. Es vermischt sich mit dem Anderen und das Andere vermischt sich mit ihm – Körper sind lebendige Milieus, deren Grenzen metastabil sind.
Neue Kultur des Digitalen
Die gleichen Medientechnologien, die zur Überwachung und Kontrolle dienen, provozieren auch neue Formate für „Intra-Aktionen“ (Barad 2003) innerhalb des Milieus bzw. der techno-sozialen Mischung, also zwischen dem, was als menschlich bzw. technologische, d. h. mechanische Handlungsmacht verstanden wird. Mit Barads Terminologie der posthumanistischen Performativität, wird ersichtlich, dass digitale Kulturen vor allem performative Kulturen sind. Somit konditionieren und prägen digitale Kulturen zwar einerseits techno-soziale Prozesse und deren Handlungsmächte, doch gleichzeitig bieten sie auch neue Potenziale für performative Praktiken und Interventionen.
Wie Martina Leeker erklärt, begründen sich konventionelle oder traditionelle Ideen von Performativität und Performance durch die Unterscheidung zwischen menschlicher und technologischer Leistung: Während menschliche Performativität mit „Intentionalität, Reflexivität und Sinnstiftung, mit Verkörperung, Wiederholung und Transgression“ verbunden werden, bezieht sich hingegen die technologische auf „deterministische Operationen ohne semiotischen oder affektive Eigenschaften“. (Leeker 2007, Einleitung)
Rekonfiguration von Handlungsmächten
Doch diese Trennung ist unhaltbar geworden, nicht zu Letzt, weil durch die rein technische Denkweise eine stete Anpassung von menschlichen und technischen Individuen bzw. wechselseitige Unterwerfung stattfindet. Daher ist es insbesondere die künstlerische Kraft, dass überwachende und kontrollierende Regime der Technokratie durch interventionistische und praxisorientierte Rekonfigurationen solcher Regime zu queren und neu zuverteilen.
Gerade weil das Behaaren auf die Offenheit und Wandelbarkeit performativen Prozessen immanent ist, geht es letzten Endes weniger um die Frage „Wer kontrolliert wen?“, sondern inwiefern wir im Netz sozio-technologischer Handlungsmächte produktiv oder destruktiv gebunden sind. Solche Verbundenheiten oder Gewohnheiten werden uns gerade durch Störungen, die es im Kontext von Arbeit, Leistungssteigerung und Optimierung zu verhindern gilt, erst sichtbar. Dabei bieten gute wie schlechte Gewohnheiten in einer neuen Situation zunächst Orientierung, müssen aber als ausradierter Hilfslinien begriffen werden, so dass mit jeder Störung eine Neuevaluation und Wiederaneignung stattfinden kann.
Die Öffnung der Black Box
Um den feinen Unterschied zwischen der Gewöhnung als bloßer Automatismus und jener als sensibilisierende Aufmerksamkeit bilden zu können, bedarf es einer Form technischer Mündigkeit. Simondon behauptet, dass die Entfremdung des Menschen durch Technik reduziert werden könne, indem Technik durch ihre Existenzweise die offenen Prozesse des sozialen und individuellen Lebens vollständig erhellt und somit die ‚Emanzipation‘ des Menschen befördere. (Simondon 2012, S. 101). Was er damit fordert, ist in irreduktionistischer Weise die Öffnung der technischen Black Boxes und Sichtbar-Machung technischer Vermittlungsweisen. Erst dadurch lernen wir das technisch Andere und die damit einhergehende pharmakologische Wechselwirkungen kennen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass alle Ingenieure werden sollten. Ganz im Gegenteil, verengt das technische Denken jene dringend notwendige ästhetische Erfahrung. Das Involviert-Sein in eine Situation lässt insbesondere und paradoxerweise mit dem Ingenieurs-Denken das Begehren aufkommen, diese Situationen berechnen zu wollen, die eigentlich nicht berechenbar ist. Das Unberechenbare berechnen zu wollen, d. h. wenn nach Prinzipien gesucht wird, gleicht dies im latourschen Sinne einer Unterbrechung oder gar Ignoranz des Skrupels. Der Skrupel wird übergangen. (Latour 2014, S. 620)
Dem Skrupel Raum geben
Der Skrupel (von lat. scrūpulus, spitzes Steinchen) muss sich jedoch innerhalb eines Entwicklungsprozesses als moralische Erfahrung installieren; er symbolisiert – so Bruno Latours Einschätzung – die Widerständigkeit einer Verbindung: Er reiße die Handlungsmacht durch Stöße, Schübe, Reibungen und Impulse mit oder leitet diese innerhalb des Milieus weiter und verstelle somit den Weg zu einfachen Lösungen (Latour 2014, S. 617).
Der Skrupel fordert und fördert damit eine Haltung des Zögerns. Das verzögerte Handeln – das Innehalten – verweist auf Gebrauchsweisen, welche die zirkulären Prozesse der reflexiven Selbstkonstitution (Steuerung durch kontinuierliches, selbstgeneriertes Feedback) zeitweise in Frage stellen bzw. neue Fragen hervorbringen.
Ganzheitliches, ästhetisches Denken
Um diese Stolpersteine im Entwicklungsprozess angemessen würdigen und wertschätzen zu können, bedarf es dem Modus des Ästhetischen. Ein ästhetisches Denken hält mit Simondons Worten die „implizite Erinnerung an die Einheit aufrecht.“ (Simondon 2012, S. 168). Gerade weil das heutiges Wissen in seiner Fülle nur ganzheitlich im Ensemble möglich wird, liegt die Kooperation zwischen Ingenieur*innen, Designer*innen, Künstler*innen, Philosoph*innen, technischen Individuen, digitalen Netzwerken u.s.w auf der Hand.
Dennoch können alle Elemente, die in einer partikularen Situation zu einem Ensemble versammelt und involviert sind auch dem Irrtum unterliegen, dass es eine mögliche, andere und in Latours Sinne „optimalere“ Verteilung hätte geben können. Insofern lassen sich die spielerische Handlungen mit und durch Technik oftmals weniger mit Kalkül, Berechnung oder bloßer Intention begreifen. Vielmehr sind die Performances der digitalen Kultur durch eine ungewisse Suche, dem ständigen diplomatischen Ausloten zwischen allen menschlichen und nicht-menschlichen Elementen samt ihrer Widerständigkeiten und evozierten Störungen gekennzeichnet.
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