Wenn die Welt um mich und in mir zu schwer, starr und eng geworden ist, dann nehme ich mir entweder ein gutes Buch, wie aktuell Stanislaw Lem „Summa Technologiae“ oder ich setze mir meine VR-Brille auf. Je nachdem tauche ich ab, betreibe aktiv einen Eskapismus, der mich befreit und gleichzeitig erdet. Müsste ich mich für eines der beiden Medien entscheiden, würde ich die VR-Brille in neugierigen Momenten dem Lem vorziehen. Die körperliche Ergriffenheit, die mit diesem technischen Apparat erzeugt werden kann, lässt mich nicht nur geistig, sondern leibhaftig lebendig werden. Denn im Vergleich zum Buch, bin ich wesentlich beweglicher. Ich spüre mich in meiner körperlichen Ausdehnung und das Bild folgt meinen Augen und nicht meine Augen den Wörtern in Zeilen.
Anfang 2015 kaufte ich mir eine Samsung Gear VR und das entsprechende Samsung Galaxy Note 4 dazu. Der technische Sehapparat lag noch eine ganze Weile in der Ecke, bevor Steffen (mein Kollege) und ich diesen das erste Mal testeten. Es gab noch wenige kostenfrei Spiele. Die Software-Entwicklung steckte noch in den Kinderschuhen. Vorausgesetzt man ist der Programmiersprache mächtig oder kann eine 3D-Engine bedienen, sind der gestalterischen Freiheit zwar enorme Bedingungen, jedoch kaum perspektivische Grenzen gesetzt. Das Virtuelle als Möglichkeitsraum zu begreifen, sitzt direkt auf der Nase: Als Kommunikationsraum, Interaktionsraum und auch Präsentationsraum.
Sieht man mal von der Alltagsflucht in Form von Spielen oder Filmen ab, wie manche Leute so gerne ein wesentliches Motiv in jedwede Mediennutzung hineinlegen, dienen Sehapparate seid jeher auch dem Erkenntnisgewinn. Im Jahre 1966 diente die Entwicklung von Head-Mounted Displays zunächst militärischen Zwecken mit dem Ziel Flugsimulationen zu testen. Chromsky definiert „simulation in the manner if normal sience“ in diesem Sinne als „construction of models […] to enhance understanding […].“ Der Zweck der Simulation ist das Ausprobieren, Testen oder Verstehen einer Situation, eines Vorgangs, eines Werkstoffes etc, der Wirklichkeit.
Facebooks Tochterfirma Oculus hat in den USA den Vorverkauf der Rift nun begonnen. Das Head-Mounted Display ist im Prinzip für Jedermann erhältlich. Doch kaum wird der Erkenntnisgewinn über die Wirklichkeit seine Träger zum Kauf ermuntern, sondern das Erschaffen und Erfahren andere virtueller Realitäten, die dann zur Wirklichkeit werden könnten. Tatsache ist, dass zu einem technischen Apparat stets ein Nutzer gehört. In meiner Beschreibung der aktuellen kulturellen Praxis mit VR-Brillen, geht es mir deshalb um die Beziehung zwischen Sehendem (dem Betrachter) und Sichtbaren (das betrachtete Objekt). Diese Beziehung beschreibt die jeweilige Wahrnehmungsform von Welt und kann somit Bewusstsein konstituieren. Was veranschaulicht uns der neuste Sehapparat über unser Bewusstsein, wenn wir diesen als philosophische Metapher betrachten? Um mich einer Antwort darüber zu nähern, versuche ich zunächst die VR-Brille als optisches Modell und technischen Apparat zu beschreiben und einzuordnen. Dabei suche ich nicht chronologisch, sondern nach Ähnlichkeiten zwischen alten und neuen Sehapparaten und nach Unterschieden in den jeweiligen Wahrnehmungsformen. Ich versuche zu zeigen, dass die Technologie der VR-Brillen auf Grund seiner Eigenschaften eine Manifestation eines neuen Bewusstseins sein kann.
Der Mensch ist per se sinnlich nicht spezialisiert, wie etwa der Vogel auf seinen Sehsinn oder die Fledermaus auf den Ultraschall. Seid der Renaissance nun, versucht der Mensch mittels verschiedener Sehapparate Erkenntnisse über die Funktionsweise des Auges zu erforschen um das Rätsel der Wahrnehmung und wie Bewusstsein entsteht zu lösen. So galt lange Zeit sie camera obscura als „Ort der Wahrheit“. Hier war der Betrachter im Dunkeln gefangen um die Welt da draußen im Schein von Stabilität und Rationalität wahrzunehmen. Das Verständnis von Bewusstsein, welches sich dadurch und mit der Zentralperspektive manifestiert hat, ist eines das man durchaus mit dem Begriff „Visualismus“ bezeichnen kann. Der Visualismus fixiert uns auf den Sehsinn und beschreibt eine „visualistische“ Kultur, eine vorwiegend von Bildern codierte Kultur, die den Menschen die Ohren verstopft, die Finger lähmt und die Zunge bindet. Er lebt von der Distanz und führte in seiner Konsequenz auch zu der Annahme, dass der Mensch die Wirklichkeit objektiv betrachten kann. Im Unterschied zu jener Distanz ist die VR-Brille geradezu von Nähe gekennzeichnet.
Auch als Head-Mounted Displays bezeichnet, kurz HMD, ist die VR-Brille ein auf dem Kopf getragenes visuelles Ausgabegerät, denn HDM heißt wörtlich übersetzt „am Kopf befestigte Anzeige“. Die VR-Brille präsentiert Bilder entweder auf einem augennahen Bildschirm oder projiziert sie direkt auf die Netzhaut. Das Bild befindet sich direkt am Körper bzw. schon auf der Oberfläche des menschlichen Körpers. So nah kamen uns die Bilder bereits in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts mit dem Stereoskop. Auch die Oculus Rift funktioniert nach dem optischen Modus der Stereoskopie. Charles Wheatstone lieferte den physiologischen Beweis im Jahre 1833 für die Binokularität der Wahrnehmung, das Doppelsehen. Er bestimmte den genauen Winkel, zwischen beiden Sehachsen und entdeckte einen Punkt hinter den Augen, an dem sich Sehnerven, Retina und Gehirn überkreuzten. Dieser Punkt sei der Ort, so lautete seine These, an dem zwei disparate Bilder zu einem einheitlichen Wahrnehmungseindruck zusammengezogen würden. Dieses Phänomen war schon seit der Antike bekannt, doch erst mit der Entwicklung der Fotografie in den 1830er Jahren gewann es an Interesse, denn in ihren Anfängen wurden fotografische Bilder zumeist stereoskopisch betrachtet.
Wie funktioniert das stereoskopische Prinzip? Je größer der Winkel der optischen Achsen, desto größer ist der dreidimensionale Effekt. Die Raumtiefe schafft eine Illusion der Dreidimensionalität. Als ein Feld aus heterogenen Splittern kann die stereoskopische Räumlichkeit bezeichnet werden. Ein Feld, welches in Zonen davor und dahinter unterteilt ist. Je enger und dichter diese flächig organisierten Schichten aneinandergrenzen, je voller das Bild ist, desto phantastischer, »verstörender» ist die Tiefenillusion. So beschreibt Jonathan Crary das Phänomen. Mit eigener Erfahrung kann ich sagen, dass die Lust an der Mobilität meines Blickes als Betrachterin stets von dem Verschmelzungspotenzial abhängt, das mir die jeweilige Sehmaschine zur Verfügung stellt. Und der Wunsch nach Verschmelzung und Eindringen wird durch die Stereoskopie selbst ausgestellt und stößt damit das zentralperspektivisch organisierte Sehfeld an seine Grenzen. Die Stereoskopie bringt eine Syntheseillusion mit sich – im Bildraum, an diesem anderen Ort sein zu wollen, ein Gespür für die eigenen Dislokationen, weder ganz hier noch ganz dort, weder gänzlich drinnen noch draußen, sondern ganz und gar dazwischen.
Doch anders als der Film oder das Head-Mounted Display erzeugt das Stereoskop keine Bewegungsillusion. Die stereoskopische Bewegung ist keine, die auf die Mobilität der Bilder basiert, sie ist jedoch ein virtueller Transport des Betrachters nach anderswo. Das Stereoskop hatte die Betrachterposition stärker destabilisiert als alle bisherigen Bewegungsapperate wie bspw. den Wunderdreher Thaumatrope (1825), die Augentäuschung Phenakistiskop (1839), die Zooptrope (1835) oder das Kino.
Da sinnliche Wahrnehmung grundsätzlich auf der Wahrnehmung von Unterschieden beruht, brachen in der Moderne die klassischen Sehmodelle einschließlich der Zentralperspektive zusammen. Mit den Bewegungsapparaten verschwimmen die Grenzen zwischen Körper und optischen Gerät und Körper und Welt. Diese markierten den Rezentrierungsaspekt. Das Novum an der VR-Brille stellt die Wahlfreiheit in der Nutzerperspektive dar. Dieser Sehapparat bietet uns eine multiperspektivische, 360 Grad Ansicht der virtuellen Umgebung. Dies ist möglich, dank eingebauter Bewegungssensoren, sogenannter Head Tracker (dt.: ‚Kopf-Verfolger‘). Anhand von Referenzpunkten an dem HMD kann der Head Tracker die Kopfbewegung erfassen. Mit den gesammelten Positionsdaten des Kopfes kann das projizierte Bild in Echtzeit verändert werden und das Bild an die momentane Blickrichtung angepasst werden. Die Technologie passt sich an den menschlichen Körper an!
Somit entsteht auch bei Bewegung das Gefühl, Teil der Umgebung zu sein. Im Test von ersten kostenlosen Spielen wurde mir so manches Mal richtig schlecht, denn eine verzögerte und unscharfe Darstellung kann zu unangenehmen Nebenerscheinungen wie der Simulator Sickness, der so bezeichneten Simulatorübelkeit führen. Hierin liegt wohl auch einer der größten Herausforderungen in der Entwicklung von Spielen oder Filmen für die VR-Brillen. Denn der Grad der Immersion, also dem Gefühl eins mit seiner virtuellen Umgebung zu sein, hängt sowohl vom Sichtfeld als auch vom relationalen und positionalen Tracking ab. Man bleibe also lieber sitzen beim Tragen der VR-Brille, denn im Extremfall deckt der Sehapparat das gesamte Gesichtsfeld ab und schotten seinen Träger komplett ab, so dass jegliche Orientierung im der physischen Umwelt fehlt. Oder aber der Träger hat diese äußere Orientierung nicht nötig, weil ein entsprechendes Körperbewußtsein unabhängig vom Betrachteten existiert.
Bewusstsein drückt sich in der Körperhaltung aus, das kenne ich aus meiner Yogapraxis. Da der VR-Brillen Träger, also der Betrachter von der physischen Umwelt komplett abgeschirmt ist und die Gefahr des Verlustes des Gleichgewichts besteht, muss ein ungeübter Betrachter relativ statisch stehen, hat also nur einen eingeschränkten Bewegungsgrad. Das Head-Mounted-Display ist von dieser Perspektive aus betrachtet ganz im modernen Sinne ein Sehapparat, der es ermöglicht fast bewegungslos bewegt zu werden, wie bei einer Eisenbahnfahrt oder dem Kinobesuch. Der Betrachter wird bewegt in der virtuellen Realität.
Kommen nun noch entsprechende Eingabegeräte zum Einsatz, wie bspw. Datenhandschuhe, eine 3D-Maus oder der Flystick wird das menschliche Bedürfnis nach Greifbarkeit befriedigt. Schon vor knapp 200 Jahren, kam mit der Einführung der Stereoskopie das erste Mal die Erfahrung von Greifbarkeit durch einen Sehapparat. Sehen und Begreifen wollen um zu erkennen. Wahrnehmung ist nicht vom Körper zu trennen, sondern setzt Leiblichkeit voraus. Mit den VR-Brillen erleben wir eine aktive Immersion die magisch wirken kann. Was ich hier mit Magie meine, ist das Einfühlen und Einsfühlen mit der Umgebung. Figur und Grund waren zu keiner Zeit wirklich getrennt, sondern durch eine projizierende und sezierendes Wahrnehmungsform und ein rationales Denken zur Vorstellung Gewordene. Das Problem einer solchen Vorstellung war seid der Renaissance, dass Erkenntnis ausschließlich mit dem Sehsinn verbunden wurde: Das Auge getrennt vom Körper vor der Folie eines durch Formatiertheit und Strukturiertheit gekennzeichnetem Denken.