Das Thema dieser techno-aisthetischen Forschung ist die individuelle, persönliche und kollektive Identitätsbildung durch die kulturelle Praxis der Selbstvermessung in unserer heutigen sensorischen Umwelt.
Mit dem Aufkommen der empirischen Wissenschaften und einer Reihe technischer Messinstrumente in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierten sich Methoden der Selbstvermessung, die der genauen und umfangreichen Erfassung des Selbst beitrugen. Dem Ideal der Optimierung folgend, gestaltet sich seither eine soziale Realität, an welche die Praxis des Biofeedback knüpft.
Auf den Begriff des Quantified Self gebracht, verbindet sich in dessen Black Box mathematisches Kalkül mit zweckrationalen Denken auf eine unheimliche Weise. Die Quantifizierung des eigenen Lebens soll sich als eine Expedition in noch unerschlossene Gebiete des Ichs erweisen.
Jedoch nehmen wir an, dass die Selbstvermessung des Ichs im Bereich des Messbaren, Analytischen und Zerlegbaren verharrt, obgleich sie unsere innersten Gefühle berührt und Identitätsbildend wirkt.
Premiere: 15.6.24, Kreativ Raum Börse – Wilsdruffer Straße 16, Dresden.
Fotocredits: Nancy Preußger, Robby Klee und Toni Meyer
Künstlerische Forschungsfragen
- Wie kann ein digitaler Feminismus auf künstlerische Weise den neuen Formen der Enteignung durch den Überwachungskapitalismus begegnen?
- Wenn der Überwachungskapitalismus gesammelte Daten als Rohstoff in Ware verwandelt, welche künstlerisch-technischen Alternativen lassen sich in einer feministischen Praxis ausmachen?
- Welche techno-logischen Unterschiede kennzeichnen eine künstlerische Praxis mit Biofeedback-Sensorik, welche die widersprüchliche und unberechenbare menschliche Erfahrung als solche wertschätzt?
- Inwieweit geht mit der Fokussierung auf den eigenen Körper als Objekt der Verlust des eigenen Körpergefühls als Subjekt einher und autorisiert Algorithmen, unsere Selbstwahrnehmung zu steuern und zu verändern?
- Welchen Einfluss nimmt Biofeedback durch Affektmodulation auf unsere Identität oder gibt es zeitliche Lücken zwischen Körper und Sensorik, die neue Identitäten kreieren, die von Widerstand und Unbestimmtheit gekennzeichnet sind?
- Wie formatieren die Biofeedback-Devices am Körper die Körperbewegung?
- Welches Verhältnis hat das Mappen von Daten zu deren Bedeutung für die zwischenmenschliche Erfahrung?
Zwar erweitert Sensortechnologie unseren sinnlichen Kontakt zur Welt, gleichzeitig umgehen wir damit eine auf unseren Körper gerichtete, bewusste Aufmerksamkeit. Die konstante und passive Datenaufzeichnung modifiziert die Selbstwahrnehmung.
Obgleich die Aufmerksamkeit – die Selektion und das Hervorheben eines Elementes – ihre Schleife direkt durch den Körper in Form von Lebenszeit zieht, verschiebt sich diese vom Körpergefühl zu den Datenreihen. Da die Objektivierung des eigenen Lebens immer auch gesellschaftliche Rationalisierungsanweisungen verhandelt, die verinnerlicht werden, nehmen wir an, dass wir uns dem arithmetische Spiel ausliefern und unterwerfen.
Werden wir durch das ständige Feedback zu einem „besserer Mensch“? Oder verhindern die endlosen rekursiven Feedbackschleifen tatsächliche Transformation und Identitätsbildung, weil nur das als ‚richtig‘ gilt, was optimal im Sinne der Effizienz funktioniert: Die perfekte Mutter, die stets verfügbare Liebhaberin, die erfolgreiche Künstlerin?
Insbesondere der Aspekt der Unterwerfung ist einer, der in feministischen Debatten gesellschaftspolitisch kritisiert wird. An diesem Punkt setzt unser Narrativ von den jüdisch- christlichen Figuren der Lilith und Eva an. Die Figuren der Eva und Lilith lassen zwei Seiten weiblicher Existenz erkennen, oft verkörpert durch zwei sich gegenüberstehende Frauentypen: die Heilige und die Hure. Eva ist die mütterliche, demutsvolle, keuche, treue, sich dem Mann unterordnende Frau, dagegen steht Lilith für ein sinnliches, verführerisches, lustvolles, leidenschaftliches und eigenständiges Leben.
Wir wollen diesen entscheidenden Aspekt der Unterwerfung techno-aisthetisch aushandeln und damit eine (feministische) Antwort auf die Frage geben, wie die Praxis mit digitaler Sensortechnologie gesellschaftspolitische Transformationspotenziale bereit hält und zugleich den tief verankerten Lilith-Komplex in der Gesellschaft künstlerisch verhandeln.
Die Arbeit mit Biofeedback-Sensorik bietet sich deshalb so gut an, da Grundlage der hyper-normalisierenden Beschleunigung die Implementierung von Kontrollmechanismen in Form von Feedbackschleifen ist, in denen sich ein Subjekt oder eine Gemeinschaft in Form von Zuschauern selbst beobachten können, um sich ihrer selbst zu vergewissern, zu versichern. Denn lassen sich in diesem Sinne die Versprechungen und Möglichkeiten der Selbstvermessung nicht erfüllen, so fehlt dem weiblichen Eva-Prinzip unter Umständen die Energie, im Rahmen der Regelhaftigkeit das Geforderte zu leisten.
Unsere Forschung ist fundiert auf intensiver Text-Recherche. Daher gibt es hier unsere Literatur-Liste:
https://eige.europa.eu/publications-resources/publications/measuring-femicide-germany?language_content_entity=en
https://cyberfeminismindex.com/#/will-the-real-body-please-stand-up-boundary-stories-about-virtual-cultures
https://kabk.github.io/go-theses-23-chiara-nowak
https://feminizidmap.org/contributions
https://systerserver.net/ATNOFS
https://feministhackerspaces.cargo.site
Reclaiming Lilith as a Strong Female Role Model
Lena Böllinger: Digitaler Feminismus_ Der Mensch als Datensatz _ ZEIT ONLINE, 28. August 2023
Lorna Crozier: Lilith and Eve
Knight, Kim Brillante: „Danger, Jane Roe!“ – Material Data Visualization as Feminist Praxis, IN: Bodies Of Information, Hrsg.: Elizabeth Losh et all., University of Minnesota Press, 2018.
Aus aktuellem Anlass
möchten wir auf die Sexualverbrechen des 7.Oktober 2023 hinweisen. Bislang blieb ein Aufschrei über die Schändung der Frauen und Mädchen aus. Der Psychologe Louis Lewitan analysiert das Schweigen von Politik, Medien und Feministinnen in seinem Artikel in der ZEIT Nr. 10/2024 (28. Februar 2024): https://www.zeit.de/2024/10/hamas-sexualverbrechen-vergewaltigungen-frauen-israel
Hier haben wir weitere Presseartikel zusammengetragen:
– https://taz.de/Video-der-Entfuehrung-israelischer-Frauen/!6009236/
– https://www.tabletmag.com/sections/community/articles/illustrated-hostage-diary-moran-stella-yanai
– https://www.juedische-allgemeine.de/israel/grausames-video-entfuehrter-soldatinnen-aufgetaucht/
– https://www.juedische-allgemeine.de/israel/unvorstellbare-brutalitaet-sexuelle-gewalt-bei-den-hamas-angriffen/
– https://taz.de/Gewalt-an-Frauen/!5972451/
Um die sichere Rückkehr aller Bürger, die von der Terrorgruppe Hamas als Geiseln genommen wurden, zu fordern und zu realisieren, wurde die Aktion „Bring the home now: Israeli hostage taken by hamas“ ins Leben gerufen: https://stories.bringthemhomenow.net/
Credits
Audiovisuelle Datengenerierung: Katharina Groß
Text und Tanz: Victoria Henneberg
Grafik-Design: Evelyn Siegmund
Kostümdesign: Wiete Sommer
Hardware-Entwicklung: Marcus Degenkolbe
Veranstalter: Trans-Media-Akademie Hellerau e.V.
biopics
Victoria Henneberg (links im Foto) studierte an der Humboldt- Universität zu Berlin in der Klasse der Filmemacherin Prof. Christina von Braun mit dem Schwerpunkt auf „critical whiteness“. Sie begann Ihre künstlerische Laufbahn mit einem Engagement in der Company “antagon “ unter der choreographischen Leitung von Minako Seki. Als freischaffende Tänzerin arbeitet/e sie u.a. zusammen mit Maya Carroll, Tal Shahar, Daniel Galay, Staatsschauspiel Dresden, dem Filmregisseur Dieter Wedel und der Semperoper Dresden. In Ihren eigenen Arbeiten setzt Sie sich mit Themen wie Identität, Gender, Erinnerung und Genozid auseinander. Dabei nimmt Sie eine kritische Haltung gegenüber den heutigen Machtstrukturen, die an der Herausbildung der eigenen Identität beteiligt sind, ein. Als Referentin für Film, mit dem Schwerpunkt Rassismus/ Antisemitismus, ist sie in dem bundesweiten Projekt“FilmMachtMut” engagiert. Victoria Henneberg erhielt ein Stipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen für Ihre künstlerische Arbeit „we are human“. Mit Ihrer Recherchearbeit “breaking the silence”, war Sie Stipendiatin der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien/ NEUSTART KULTUR / Dachverband für Tanz Deutschland. Sie ist Mitbegründerin und Mitglied der, in Dresden ansässigen , 4roomsDanceCompany. In der Produktion “layers of identity” ist sie als Tänzerin engagiert und außerdem für die Recherche und Aufnahme der Texte verantwortlich.
Katharina Groß schloss im Jahr 2014 ihr Meisterschülerstudium an der HfBK Dresden im Fachbereich Medien bei Prof. Dammbeck ab. Mit der Erfahrung synästhetischer Verbindungen von Musik und Bild, dem Faible für Narration und vor allem durch die Zusammenarbeit mit Tänzern und Performern folgte die intensive medienkünstlerische Erforschung von “Virtual Reality” und anderer hybrider Netzwerke. Mit diesem Projekt setzt sie praktisch ihre langjährige medienkünstlerische Forschung zur „techno-aisthetischen Existenzweise“ fort. Für Groß ist diese genau in den (noch) unbestimmten Spielräumen zwischen Menschlichem und Technischem zu finden. Anders gesagt, wenn Künstler*innen in ihr Spiel kommen, spielt immer schon etwas anderes mit ihnen – in diesem Fall die Medientechnik und Sensorik. Um das Technische besser zu verstehen, lernt Groß seit sieben Jahren autodidaktisch die Entwicklerumgebungen, wie SonicPi oder TouchDesigner. In den letzten drei Jahren schuf Groß in Zusammenarbeit mit Software-Entwickler:innen und Performer:innen die interaktiven Performances blackboxing (2019), MUTUAL RESONANCE (2020) und phronesis (2021) sowie die multisensorischen VR-Installationen latentia (2018/19) und VIRTUAL CHOIR (2019-2022). Ihre praktisch-basierten Forschungen münden in ihre derzeitige Promotion zum Dr. phil. an der Bauhaus Universität Weimar im Fach Medienphilosophie.